Deutsch-Französisches Institut
Arbeitsgemeinschaft, Elternvereinigung und Förderverein der Gymnasien mit zweisprachig deutsch-französischem Zug in Deutschland (LIBINGUA)

Frankreich und die zivile Nutzung der Atomkraft nach Fukushima

Hintergrund: Historische Entwicklung und aktuelle Diskussionen

Der «französische Atomstaat»

Die zivile Nutzung der Atomkraft ist der Zwillingsbruder der militärischen atomaren Rüstung, die von De Gaulle als Werkzeug der nationalen Unabhängigkeit angesehen wurde. Dies sagt Corinne Lepage, die französische Umweltministerin von 1995-97. Die zivile Nutzung, auch als «usage pacifique de l'atome» bezeichnet, erscheint danach neben der militärischen als ein weiteres Werkzeug der nationalen Unabhängigkeit, der Unabhängigkeit von Energieeinfuhren und hat damit einen ähnlichen prestigeträchtigen Nimbus1.

Schon Mitte der 50-er Jahre des letzten Jahrhunderts ist eine Kommission gegründet worden mit der Aufgabe, die Erzeugung von Nuklearstrom vorzubereiten. Premierminister Messmer hat dann Anfang der 70-er Jahre nach der Ölkrise, die die gesamte westliche Welt zu traumatisieren schien, ein gigantisches Programm mit der Errichtung von 4 bis 6 Atommeilern pro Jahr bis 1985 aufgelegt2.

Diese Entwicklung verlief vergleichsweise geräuschlos trotz eines Appells von 400 Forschern des Collège de France gegen den Plan Messmer mit dem Hinweis auf mangelnde Transparenz, den Risiken von Lecks3 in den Atomanlagen und der nicht gelösten Frage der nuklearen Abfälle. Es wurde eine außerparlamentarische öffentliche Debatte gefordert. Sie blieb letztlich ohne Erfolg.

Diese Opposition hatte keine Chance gegenüber dem Block der sogenannten großen Staatskorporationen und der Politiker fast aller Parteien (90%) in der Assemblee Nationale einschließlich der zum damaligen Zeitpunkt nicht an der Regierung beteiligten kommunistischen Partei. Deren Gewerkschaft CGT, die vom staatlichen Stromkonzern EDF darüber hinaus ein Prozent des Umsatzes bekam, brauchte vor diesem Hintergrund und mit der Aussicht, es würden Arbeitsplätze geschaffen, gar nicht erst überzeugt zu werden.

Das autokratische Staatsmonopol

Diese geballte Macht der Wissenschaftler aus den französischen Elitehochschulen Mines, Ponts et Polytechnique (die sogenannten Staatskorporationen), derer sich die Politik bediente4, wurde quasi nach sowjetischem Muster beauftragt, in der Industrie (Thomson, Alsthom u.a.) die sich große Gewinne versprach, das Nuklearprogramm auf den Weg zu bringen. Die Zentralisierung dieser technokratisch umgesetzten5 Entscheidungsprozesse war eine wichtige Voraussetzung, das Nuklearprogramm ohne öffentliche Debatte fast wie in totalitären Staaten umzusetzen.
Frankreich hat mittlerweile den Atomstrom auf 80 % der gesamten Stromerzeugung hochgeschraubt6. Es ist weltweit bezogen auf die Bevölkerungszahl das Land mit den weitaus meisten Nuklearanlagen mit einer Überkapazität von 10 Reaktoren, die Stromexport ermöglichen, auch nach Deutschland. Diese ökonomische Situation bedingt7 zwangsläufig gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise und der Exportschwäche des Landes die Schwierigkeit einer öffentlichen Debatte, zumal der Strompreis in Frankreich 25% unter dem europäischen Durchschnitt liegt unter Nichtberücksichtigung8 der gewaltigen Kosten für den Abbau9 ausgedienter Nuklearanlagen.

Diese Kosten sind in der Regel vom Steuerzahler, d. h. vom Stromkunden der nächsten Generation zu bezahlen.

Widerstandsaktionen und Ausstiegsoptionen

Gleichwohl hat es auch in Frankreich vor dem Hintergrund des Gefahrenpotentials immer wieder Protestaktionen gegen die exzessive Nutzung der Kernkraft gegeben, nicht nur zu Beginn der Einführung der Kernkraftwerke in den 70-er Jahren und während der Tschernobyl-Katastrophe 1986, die heutzutage einen solchen kompromisslosen Aufbau von Nuklearanlagen sicher nicht mehr möglich machen würde.

Als die Linke in Frankreich mit dem Sozialisten François Mitterand 1981 an die Macht kam, wird die Nuklearanlage in Plogoff nach massiven Demonstrationen mit 150000 Teilnehmern stillgelegt10. Gleichwohl wurde das Nuklearprogramm nicht deutlich reduziert, auch als die Partei der Grünen zwischen 1997 und 2002 an der Regierung beteiligt war. Immerhin trug sie dazu bei, dass der Reaktor Superphenix stillgelegt wurde.

Nach Fukushima flammte die Diskussion um Ausstiegsoptionen wieder auf11. Die konservative Sarkozy-Regierung lehnt dies ab, während aus dem Lager der Sozialisten, die seit 2012 die Regierungsmehrheit stellen, vor der Regierungsübernahme und quasi schon im Wahlkampf nach dem Fukushima-Desaster 2011 laut darüber nachgedacht wurde, den Anteil des Nuklearstroms zunehmend zu reduzieren (so Laurent Fabius, der jetzige Außenminister) bzw. aus der Nuklearstromerzeugung in den nächsten 20 bis 30 Jahren auszusteigen (so Martine Aubry, Bürgermeisterin von Lille und Spitzenpolitikerin der Sozialistischen Partei). Im Wahlkampf hat der jetzige sozialistische Präsident François Hollande versprochen, innerhalb dieser Legislaturperiode den störanfälligsten12 aller französichen Atommeiler, Fessenheim an der deutschen Grenze, stillzulegen. Bisher scheint es, dass dieses Vorhaben aufgeschoben werden soll.

Nach dem Ausscheiden der Grünen aus der Hollande - Regierung 2014 liegt es nahe, all diese Initiativen letztlich als populistische Wahlkampfmanöver zu bezeichnen.

Text: Paul Leuck, Februar 2015

vgl. dazu:

Vokabular

1Nimbus (m.)auréole
2ein Programm auflegendresser/faire un programme
3Leck (n.)fuite
4sich (einer Sache) bedienense servir de qc.
5umsetzen (Entscheidungsprozesse)mettre en oeuvre
6hochschraubenaugmenter
7bedingenavoir pour consequence
8Nichberücksichtigung (f.)ne pas prendre en considération
9Abbau (m.)demantèlement
10stilllegenarrêter
11aufflammen (h. flg.)reprendre
12störanfälligavec beaucoup de risques

Arbeitsanweisungen

  1. Skizzieren Sie die Rolle und den Aufbau der französischen Nuklearmeiler.
  2. Stellen Sie dar, mit welchen Mitteln möglicher Widerstand gegen das Atomprogramm im Keim erstickt wurde.
  3. Stellen Sie die Risiken der Stromerzeugung aus Kernkraft vor dem Hintergrund der Vorkehrungsmaßnahmen und der Argumente der Kernkraftgegner dar.
  4. Vergleichen Sie die Maßnahmen in Frankreich und Deutschland nach der Fukushima- Katastrophe vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen Begründungs-zusammenhänge und wirtschaftspolitischen Strategien.