Deutsch-Französisches Institut
Arbeitsgemeinschaft, Elternvereinigung und Förderverein der Gymnasien mit zweisprachig deutsch-französischem Zug in Deutschland (LIBINGUA)

Ökologische Erinnerungsorte

Das Konzept der „Erinnerungsorte“, der „lieux de mémoire“, geht auf ein Projekt des französischen Historikers Pierre Nora zurück, der die französische Geschichte nicht mehr als Nationalgeschichte im Stil des 19. Jahrhunderts schreiben, sondern Inhalte des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Wahrnehmung in den Blick nehmen wollte. Es geht somit um Bilder und emotional aufgeladene Vorstellungen, die Menschen mit ihrer Vergangenheit und mit der Vergangenheit eines Landes verbinden. Erinnerungsorte sind demnach nicht nur lokalisierbare Orte, sondern auch reale und mythische Gestalten, Ereignisse, Gebäude, Kunstwerke, Begriffe usw. sowie Praktiken im Symbolsystem einer Kultur. Noras Projekt führte europaweit zu Folgeprojekten. Analysiert und publiziert wurden unter anderem „Deutsche Erinnerungsorte“ (herausgegeben von Étienne François und Hagen Schulze), „Erinnerungsorte der DDR“ (herausgegeben von Martin Sabrow) sowie „Europäische Erinnerungsorte“ (herausgegeben von Pim den Boer).

Eine klassisch gewordene Definition hat der Historiker Étienne François geprägt. Erinnerungsorte seien „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert“, schreibt er in der Einleitung zum ersten Band der Deutschen Erinnerungsorte.

Während die Forschung zu dieser Art materieller und immaterieller Erinnerungsorte dominierend Diskurse in den Blick nimmt, sind ökologische Erinnerungsorte dagegen häufig geographisch lokalisierbar. Ökologische Erinnerungsorte haben, so Frank Uekötter, „stets auch eine biologisch-physikalische Dimension mit einer ganz eigenen Logik“ (Uekötter, 19). Uekötter hebt hervor, dass es in seinem Projekt zu „Ökologischen Erinnerungsorten“ jedoch nicht um die Ökologie als biologische Wissenschaft gehe, sondern „um jene Ökologie, die zum Kampfbegriff der Umweltbewegungen wurde“, mithin um Ökologie als „Chiffre für die Interdependenz von Mensch und natürlicher Umwelt“ (Uekötter, 20).
Ökologische Erinnerungsorte definiert er daher folgendermaßen:

„Ökologische Erinnerungsorte sind geographisch und zeitlich begrenzte Ereignisse, in denen die Interaktion von Mensch und Natur in ihrer ganzen Vielfalt eine wesentliche Rolle spielt. Diese Ereignisse zeichnen sich durch eine Mehrzahl von politischen, administrativen, diskursiv-kulturellen oder lebenspraktischen Folgen aus, die über die Zeit des Ereignisses hinausreichen und zumindest in einzelnen Facetten bis in die Gegenwart nachwirken. Diese Nachwirkungen müssen sich nicht zwangsläufig in einem starken Bewusstsein für das Ereignis selbst dokumentieren, sondern können auch in Handlungs- und Denkweisen verborgen liegen. Die Analyse von Erinnerungsorten ist somit zu erweitern um eine Analyse politisch-administrativer, ökonomischer oder lebensweltlicher Praktiken und kollektiver Mentalitäten, deren geschichtliche Prägung sich erst durch die quasi archäologische Freilegung der historischen Zusammenhänge erschließt. Bei der Analyse dieser Memorialpraktiken ist Bruchlinien und Divergenzen besondere Beachtung zu schenken.“ (Uekötter, 21)

Literatur:

  • Den Boer, Pim u.a. (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte. 3 Bände, München 2012.
  • François, Étienne/ Schulze, Hagen (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bände, München 2001.
  • Nora, Pierre, Between Memory and History. Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26 (Frühjahr 1989), S. 7-24.
  • Pflüger, Christine, „Erinnerungsorte“, in: Mayer, Ulrich/ Pandel, Hans-Jürgen/ Schneider, Gerhard/ Schönemann, Bernd (Hrsg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2006.
  • Sabrow, Martin (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009.
  • Uekötter, Frank (Hrsg.), Ökologische Erinnerungsorte, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2014.
  • Uekötter, Frank, Wege zu einer ökologischen Erinnerungskultur, in: Ders. (Hrsg.), Ökologische Erinnerungsorte, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 7-26.