RHEINGESCHICHTEN (7 UND SCHLUSS): Mit Spaten und Spitzhacke – Die Rheinbegradigung unter Tulla wurde im Frondienst1 bewältigt.
Von Dorothee Philipp (Text und Fotos)
Noch muss man im Ufergestrüpp lange suchen, bis man die Stelle findet, wo sich einst der Neuenburger Hafen befand. Unter Brombeerhecken versteckt führt eine kleine Treppe zum Ufer hinab. Die Umsetzung des Integrierten Rheinprogramms (IRP) wird die Anlegestelle wieder ans Licht bringen. Die Baumaßnahmen, die neue Überflutungsflächen2 schaffen und die Unterlieger vor Hochwasser3 schützen sollen, müssen anderswo ausgeglichen werden. Auf Neuenburger Gemarkung bedeutet das, dass die Menschen durch den Abtrag von Gelände wieder einen einfacheren Zugang zum Rheinufer haben werden.
Seit 200 Jahren bauen die Menschen am Rhein herum, jede Maßnahme versucht, die Mängel der vorigen zu beheben und gleichzeitig den Strom als Transportweg und Energielieferant optimal auszunutzen. Inzwischen sind auch die Belange des Naturschutzes ein wichtiger Faktor geworden. Hochwasser und Seuchen4 waren die Gründe für die erste Rheinbegradigung durch den großherzoglichen Geometer Johann Gottfried Tulla (1770 bis 1828). 1817 begann Tulla sein Lebenswerk, die Planungen gingen bis ins Jahr 1809 zurück. Da man damals kein schweres Gerät zur Verfügung hatte, wurden entlang der Mäanderschlingen kleinere Durchstiche5 gegraben, durch die das Wasser wegen des größeren Gefälles auch mit stärkerer Strömung floss und bei jedem Hochwasser die Durchstiche verbreiterte.
Die Erdarbeiten wurden den Anwohnern aufgebürdet, die sich oftmals gegen den Frondienst wehrten. Auch Militär wurde eingesetzt, um die Widerspenstigen6 anzutreiben. 40 Jahre brauchte dieser Gewaltakt, bei dem 30 Millionen Kubikmeter Erde bewegt und zwölf Millionen Quadratmeter Inseln abgetragen und weggeschwemmt wurden. Der Flusslauf zwischen Basel und Bingen verkürzte sich um 81 Kilometer.
Zwischen 1890 und 1900 entstand ein durchgehender Hochwasserdamm zu beiden Seiten des Rheins, der die Tiefenerosion, also die Absenkung7 von Fluss und Grundwasserspiegel8, weiter beschleunigte. Um 1900 traten erstmals die Isteiner Schwellen zutage, die früher sieben Meter unter dem Wasserspiegel gelegen, für manchen Schiffbruch verantwortlich waren.
Johann Baptist Fischart berichtet in seiner Verserzählung "Das Glückhafft Schiff von Zürich" 1576 an dieser Stelle von einem "Strudelberg". Um den Rhein auch mit größeren Schiffen zu befahren, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dessen linker Seite ein 40 Meter breiter und zwei Meter tiefer Seitenkanal geplant. 1907 begann der Ausbau bei Sondenheim /Speyer, 1924 war Mannheim, 1930 Straßburg erreicht. Im Versailler Vertrag von 1919 erhielt Frankreich das Recht der alleinigen Nutzung des Rheinwassers entlang der deutsch-französischen Grenze. Neben dem Ausbau für die Schifffahrt wurde nun auch der Kraftwerksbau betrieben. Der Grand Canal d’ Alsace, begonnen 1928 bei Basel wurde bis Breisach als schnurgerade Wasserstraße gebaut, weiter nördlich dann nach binationalen Verhandlungen als "Schlingenlösung" fortgeführt. Das Wasser wurde jeweils für die Länge einer Staustufe über französisches Territorium geführt und dann wieder in den Rhein zurückgeleitet. Auf diese Weise sollte die Versteppung der Landschaft infolge des sinkenden Grundwasserspiegels gestoppt werden.
Schon 1978 erkannte man, dass die Rheinbegradigung immer größere Hochwassergefahren für die Unterlieger brachte. Eine "Hochwasser-Studienkommission für den Rhein" erarbeitete internationale Verträge der Rheinanliegerstaaten, in denen der Bau von Rückhalteräumen9 thematisiert wurde. 1982 wurde die deutsch-französische Vereinbarung unterzeichnet. 1988 beschloss das Land Baden-Württemberg ein umweltverträgliches Rahmenkonzept, 1996 folgte der Kabinettsbeschluss des IRP für 13 Rückhalteräume zwischen Basel und Karlsruhe. Zwischen Weil und Breisach sind es vier Bauabschnitte, in denen großflächig Kies aus den Uferzonen ausgebaggert wird, damit hier Überflutungsflächen entstehen können. 25 Millionen Kubikmeter Wasser sollen so bei Hochwasser in der Fläche verteilt werden. In diesem Herbst sollen bei Neuenburg die ersten Rodungsarbeiten10 für das Jahrhundertwerk beginnen.
Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der Badischen Zeitung am 26.09.2013. - Online verfügbar unter http://www.badische-zeitung.de/die-urgewalt-baendigen
1 | Der Frondienst | la corvée |
2 | die Überflutung | l’inondation |
3 | das Hochwasser | la crue |
4 | der Durchstich | le percement |
5 | die Seuche | l’épidémie |
6 | widerspenstig | indocile, insoumis |
7 | die Absenkung | l’effondrement |
8 | das Grundwasser | la nappe phréatique |
9 | Rückhalteraum = das Rückhaltebecken | le bassin de retenu |
10 | die Rodungsarbeit | le travail de défrichement |